02.05.2024

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„Unsere Vorstellungen haben zumeist etwas Biedermeierliches“

Über den Niedergang der bestehenden und das Entstehen einer neuen Weltordnung, die Grundlagen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik sowie den Zustand der westlichen Bündnisstrukturen zum 75. Jahrestag der Gründung der NATO

Im Gespräch mit Herfried Münkler
31.03.2024

Die Weltpolitik steht an einem Scheideweg. Während die alte Führungsmacht USA müde erscheint, stellen neue Akteure die bestehende Ordnung offen infrage. Und während Russland Krieg gegen die Ukraine führt, wird es im eigenen Land von einem schweren Terroranschlag getroffen. Zeit für eine Einordnung des Geschehens mit einem der renommiertesten politischen Theoretiker und Ideengeschichtler unserer Zeit.

Herr Professor Münkler, während in Europa ein Krieg tobt, widmen Sie sich in Ihrem jüngsten Buch einer „Welt in Aufruhr“ und – im Untertitel – der „Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert“. Worum geht es in Ihrem Buch genau?
Im Grunde geht es um den Verfall jener Weltordnung, die noch die vorherrschende ist. Diese ist geprägt durch die US-amerikanische Dominanz, die jedoch zusehends schwächer wird – und zwar nicht nur von den ökonomischen und militärischen Ressourcen her, sondern auch in Teilen der politischen Elite der USA selbst. Dort ist die gezeigte Bereitschaft, Hüter der bestehenden Weltordnung zu sein, massiv gesunken. Der Name, der dafür steht, heißt Donald Trump.

In einer solchen Situation der Instabilität gerät die Welt in Aufruhr. Es kommt zu bewaffneten Konflikten, in denen einzelne oder mehrere Akteure die bestehende Ordnung offen infrage stellen und die Konflikte von den Peripherien in die Zentren der Ordnung tragen. Wir sehen das nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Gaza, rund um die Arabische Halbinsel und gerade erst in Moskau.
Allerdings muss eine solche Lage wie die jetzige nicht zwangsläufig zu immer mehr Kriegen führen. Vielmehr ist zu erwarten, dass in dem Maße, in dem sich eine neue Ordnung der Mächte bildet, auch die Konflikte wieder rückläufig sind.
Auffällig an der von Ihnen skizzierten neuen Weltordnung ist, dass diese nicht mehr von einer einzigen Macht getragen wird, sondern von mehreren Mächten.
Richtig. Noch vor wenigen Jahren meinten viele, wenn das amerikanische Jahrhundert zu Ende gehe, werde – wie bei einer Staffelholz-Übergabe – ein chinesisches Jahrhundert folgen, in dem es weiterhin eine einzelne globale Ordnungsmacht gäbe. Ich glaube nicht, dass es so kommen wird. Die Chinesen betreiben zwar eine zielstrebige Einflusszonenpolitik, doch zeigen sie keine Anzeichen, globale Verantwortung übernehmen zu wollen. Insofern wird die postamerikanische Weltordnung wahrscheinlich von mehreren Mächten geprägt sein.

Zu diesen Mächten wird neben den USA und China sicherlich auch Russland gehören. Wobei ich nicht sicher bin, ob es wirklich so wiedererstarkt ist, wie es mit Blick auf den Ukrainekrieg in manchen Kommentaren heißt. Der Terroranschlag von Moskau vor wenigen Tagen hat auf schreckliche Weise daran erinnert, dass auch Russland mit schweren inneren Konflikten zu kämpfen hat. Außenpolitisch tritt es gleichwohl aggressiv und revisionistisch auf und droht permanent mit seinen Nuklearwaffen. Als vierte Macht kann die Europäische Union ein Faktor der zukünftigen Weltordnung sein, wenn sie es denn schafft, ein politischer Akteur zu werden, was sie zurzeit nicht ist.

Als fünfte Macht dürfte Indien dazukommen, das zunehmend einen Platz in der vorderen Reihe sucht, wofür man die erfolgreiche Mondlandung als Indiz anführen kann, die indischen Bewerbungen um große Sportereignisse und vor allem den Umstand, dass Indien seit Kurzem das bevölkerungsreichste Land der Erde ist. Zudem würde Indien in einer solchen Weltordnung den globalen Süden repräsentieren, ohne den eine neue Weltordnung kaum vorstellbar ist.

Wie stark die Russen sind, ist in der Tat schwer einzuschätzen. Fakt ist, dass sie mit ihrem Angriff auf die Ukraine bislang die einzigen sind, die die bestehende Weltordnung offen infrage stellen.
Durchaus. Wir sollten jedoch nicht nur auf den Angriff vom 24. Februar 2022 selbst blicken, sondern auch auf die Reaktion der Weltgemeinschaft darauf. Diese hat in der Abstimmung über eine UN-Resolution gegen die russische Verletzung der UN-Charta keineswegs einhellig reagiert, sich vielfach enthalten und sogar einige Gegenstimmen gezeigt. Hier ist gewissermaßen der zweite Pfeiler der bestehenden Ordnung weggebrochen – der Respekt vor der Charta der Vereinten Nationen, die einen Angriffskrieg verbietet.

Man sollte jedoch im Zusammenhang mit dem 24. Februar 2022 auch die Ereignisse um den 15. August 2021 bedenken, als die US-Amerikaner und ihre Verbündeten überstürzt aus Afghanistan abzogen und das Land nach fast zwei Jahrzehnten, nach Investitionen von vielen Milliarden Euro und Dollar sowie nach dem Verlust von einigen Tausend getöteten und gefallenen Soldaten einfach aufgaben. Die Herren im Kreml – und nicht nur sie – haben dies als Zeichen der Schwäche wahrgenommen.

Ein Kapitel Ihres Buches ist der Geopolitik gewidmet. Diese Ausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik entlang geographischer Gegebenheiten war in Deutschland lange verpönt. Sie hingegen verweisen seit Langem auf die Notwendigkeit geopolitischen Denkens. Hat es in dieser Hinsicht in Deutschland in den letzten Jahren einen Lernprozess gegeben?
Nein, im Grunde hat es sogar einen Prozess des Entlernens gegeben, in dem in der deutschen Außenpolitik Werte an die Stelle geostrategischer Überlegungen getreten sind.

Das ist in der Tat ein deutscher Sonderweg. Die Briten und die Franzosen haben immer geopolitisch gedacht, erst recht die USA, siehe die maritimen Geopolitikkonzeptionen des Admirals Alfred T. Mahan oder die Heartland-Theorie von Halford Mackinder. Eine zentrale Frage war und ist für die Amerikaner immer, wie sie als maritime Macht von außen die „Weltinsel“ kontrollieren können, weshalb sie sowohl im Westen Europas als auch auf der Gegenseite in Ostasien präsent sind.

Derlei grundsätzliche strategische Denkschulen gibt es in Deutschland nicht.

Zur geopolitischen Grundkonstellation Deutschlands gehört seine zentrale Lage in Europa. Aus ihr resultiert – auch das haben Sie wiederholt beschrieben – der Auftrag, sich jedem Konflikt auf diesem Kontinent zu stellen, weil er früher oder später auch unser Land erreichen wird. Hat Deutschland in diese Rolle hineingefunden?
Grundsätzlich ja. Die Europäische Union ist geprägt durch starke zentrifugale Kräfte. Als die Deutschen um 2010 herum in der Frage der Überschuldung der südlichen EU-Länder ihre wirtschaftliche Stärke in politische Macht transferierten und deutlich machten, dass sie eine Vergemeinschaftung nationaler Schulden nicht akzeptieren werden, war dies ein harter Schlag gegen die Achse Berlin-Paris.

Noch stärker wirkten die Zentrifugalkräfte in der Migrationskrise von 2015. Während damals die südlichen EU-Länder – vor allem Italien und Griechenland – der unkontrollierten Zuwanderung nicht mehr Herr wurden, lehnten die Skandinavier und Ostmitteleuropäer die Aufnahme von Migranten ab. Deutschland war hier mit seinem Ansatz, über eine Million Migranten aufzunehmen, nicht nur geographisch, sondern auch konzeptionell in der Mitte.

Etwas flapsig könnte man sagen: Die Deutschen haben nicht nur aufgrund ihrer Größe, sondern auch aufgrund ihrer Lage die Aufgabe, diesen schwierigen Laden namens EU zusammenzuhalten. Im Großen und Ganzen meistern sie dies ganz ordentlich. Beim Ukrainekonflikt haben sie jedoch zu spät erkannt, welches Zerstörungspotential darin steckt. Die fatalen Folgen können wir jeden Tag beobachten.

Ist der von der deutschen Außenministerin Baerbock verkündete Ansatz einer „wertegeleiten Außenpolitik“ überhaupt möglich?
Das Problem der „wertegeleiteten Außenpolitik“ ist, dass sie einen Hüter der Weltordnung voraussetzt, der die Einhaltung der Werte und der vertraglich fixierten Regeln garantiert. Frau Baerbock hatte bei ihrem Amtsantritt Ende 2021 nicht begriffen, dass seit dem US-amerikanischen Abzug aus Kabul wenige Monate zuvor die Vorstellung einer auf Werten und Regeln basierenden Ordnung keinen Hüter mehr hat, dass sie ein Fuchteln mit Papieren ist, das die großen Akteure nicht mehr beeindruckt.

In der Folge bleiben selbst schwerste Regelverstöße ohne Konsequenzen. Es sieht sicherlich in den Medien gut aus, aufs Völkerrecht zu verweisen oder auch einen Haftbefehl gegen Herrn Putin auszustellen, aber reale Auswirkungen hat das nicht. Der russische Präsident könnte in unzählige Länder der Welt reisen, ohne dass der Haftbefehl vollstreckt würde. Da fehlt der deutschen Außenpolitik das analytische Sensorium dafür, in welchen Konstellationen sie sich bewegt.

Mein alter Freund und Gesprächspartner Niccolò Machiavelli hat das „die Qualität der Zeitumstände“ genannt. Was Baerbock bei ihrem Amtsantritt verkündete, basierte auf einer Weltordnung, die es zu jenem Zeitpunkt schon nicht mehr gab. Das wurde übrigens selten so sichtbar wie bei der Verbeugung ihres Parteifreunds Robert Habeck vor den Scheichs in Katar, die ganz gewiss nicht für die gleichen Werte stehen wie wir, aber dringend als mögliche Gaslieferanten gebraucht wurden, was Habeck im Übrigen erfolgreich hinbekommen hat.

Gegen völkerrechtliche Regeln haben nicht nur die Russen verstoßen, sondern auch die US-Amerikaner, etwa in Vietnam, im Irak, in Serbien und andernorts. Was bedeutet das für die von Ihnen genannte Rolle als Hüter der Weltordnung?
Es ist ein durchgehendes Problem der Geschichte, dass der Hüter einer Ordnung die Neigung dazu hat, sich als deren Herr misszuverstehen. Das zeigt aber auch die Abhängigkeit von eben diesem Hüter. Fällt er aus, gibt es niemanden, der an seine Stelle treten könnte. Und nutzt er seine Rolle machtpolitisch aus, desavouiert er die Ordnung als Ganzes.

Vielleicht noch ein Gedanke zur „wertegeleiteten Außenpolitik“: Ich glaube, dass das Modell der eingangs genannten fünf Mächte darauf hinausläuft, dass es in der künftigen Weltordnung nicht nur verschiedene Macht- und Einflusszonen geben wird, sondern auch unterschiedliche Werte-Sphären. Es ist ja nicht so, dass die Chinesen keine Werte hätten, doch sind es eben andere Maßstäbe, die eher nach konfuzianischen Vorstellungen funktionieren, in denen die Gemeinschaft über dem Einzelnen steht, während unsere westliche Vorstellung von den Rechten des Individuums ausgeht.

Ist dieses Fünf-Mächte-Modell damit möglicherweise auch das ehrlichere, weil es gar nicht erst versucht, Werte einer Region der ganzen Welt als universell gültig aufzuzwingen?
Es ist sicherlich das ehrlichere Modell, weil es nicht nur die Ungleichzeitigkeit von Entwicklungsverläufen berücksichtigt, sondern auch die Unterschiedlichkeit von Wertvorstellungen. Im Übrigen sind die heute als „westlich“ geltenden Werte auch bei uns noch nicht so lange präsent. Sie wurden im Zeitalter der Aufklärung formuliert und erst durch die Wohlstandsentwicklung der Industrialisierung praktisch ermöglicht.

Neben Machiavelli ist auch Carl von Clausewitz ein alter gedanklicher Gesprächspartner von Ihnen. In der deutschen politischen Landschaft, das gilt im Grunde für alle Parteien, finden diese Namen allerdings kaum noch Erwähnung. Fehlt unserer Außenpolitik die intellektuelle Grundlage, um den ihr gestellten Aufgaben gerecht werden zu können?
Das fürchte ich. Unsere Vorstellungen von Außen- und Sicherheitspolitik haben zumeist etwas Biedermeierliches, „Hardpower“-Kriterien spielen darin kaum eine Rolle.

Es steigert indes keineswegs unseren Einfluss in der Welt, wenn wir die Eliten anderer Länder ständig ermahnen, eine Gesellschaft zu entwickeln, in der es eine korruptionsresistente Verwaltung, ein unabhängiges Rechtssystem oder eine freie Zivilgesellschaft gibt, während die Chinesen parallel einfach nur lukrative Wirtschaftsbeziehungen anbieten und sich für die inneren Angelegenheiten ihrer Partnerländer nicht interessieren. Dann sind sie die Attraktiveren, und wir gehen bei den wirtschaftlichen wie politischen Beziehungen leer aus.

In diesen Tagen jährt sich der 75. Jahrestag der Gründung der NATO. Ende 2019 hatte der französische Präsident Macron das westliche Bündnis für „hirntot“ erklärt. Wie sehen Sie die NATO heute?
Die NATO war bei ihrer Entstehung – wie jedes Bündnis – das Produkt einer bestimmten Konstellation. Für die USA als dominierende Macht war sie ein Raum, der einerseits ökonomisch wichtig war und der andererseits die amerikanische Präsenz in Europa garantierte.

Wie vital die NATO ist, hängt von zwei Faktoren ab: 1. wie sehr die Amerikaner bereit sind, sich weiter als Führungsmacht zu engagieren und ob 2. die Europäer in der Lage sind, einen Rückzug der traditionellen Führungsmacht aus Europa zu kompensieren. Für die Amerikaner stellt sich in Zeiten abnehmender Stärke schon seit geraumer Zeit die Frage, wo sie ihre Kräfte konzentrieren. Dazu erklärte bereits Barack Obama als Präsident, dass sein Land für den Fall, dass es nicht mehr in der Lage wäre zu einer gleichgewichtigen und gleichzeitigen Machtprojektion im atlantischen und im pazifischen Raum, den pazifischen Raum präferieren würde. Denn dort lägen ökonomisch das größere Gewicht und geopolitisch die größeren Herausforderungen für die USA.

Insofern werden die Europäer auch ohne die Revisionsbestrebungen Russlands und auch ohne die jüngsten Drohungen Trumps, im Falle seines Wahlsiegs, Putin zu ermuntern, nach all jenen Ländern zu greifen, die ihren Beitragsverpflichtungen an die NATO nicht nachkommen, auf mittlere und längere Sicht sehr viel mehr auf eigenen Beinen stehen müssen, als das in der Vergangenheit der Fall war.

Die Frage dabei ist: Wer hält die Europäer zusammen? Wer schafft es, bei ihnen ein gemeinsames Verteidigungsbewusstsein zu erzeugen und dafür zu sorgen, dass sie zusammen handlungsfähig sind? Da muss man darauf hoffen, dass die Achse Paris-Berlin, vielleicht um Warschau verlängert, wieder in Gang kommt und der europäische Teil der NATO so stark bleibt, dass er gegebenenfalls auch ohne ein glaubwürdiges Schutzversprechen der USA überlebensfähig ist.

Nach dem Ersten Weltkrieg führte der Rückzug der USA aus Europa dazu, dass die europäischen Mächte in Versuchung gerieten, die alten Ränkespiele wiederaufzunehmen. Als die Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg als Ordnungsmacht in Westeuropa blieben, sorgten sie mit ihrem Gewicht dafür, dass alte Erzfeinde zu Verbündeten wurden. Muss man sich da nicht sorgen, dass bei einem erneuten Rückzug der USA aus Europa die unseligen Geister der Vergangenheit zurückkehren?
Wenn man davon ausgeht, dass die Europäer einen mechanischen Zwang zur Wiederholung ihrer historischen Dummheiten haben, dann durchaus. Falls sie tatsächlich in alte Verhaltensmuster zurückfallen und anstatt einig zu handeln wieder gegeneinander arbeiten sollten, werden sie jedoch in der künftigen Weltordnung keine Rolle mehr spielen.

Im Übrigen hat auch die Sowjetunion in dem ihr nach 1945 zugefallenen Teil Europas dafür gesorgt, dass die überkommenen innereuropäischen Kontroversen nicht wieder hochkamen, wie das zwischen 1919 und der Mitte der 1920er Jahre der Fall war, als dort einige Kriege gegeneinander geführt wurden, etwa Ungarn gegen Rumänien oder Griechenland gegen die Türkei. Die Osterweiterung von NATO und EU hatte auch die Aufgabe, die Wiederholung dessen zu verhindern.

Die Geschichte zeigt übrigens, dass es verschiedene Fünfermodelle – Pentarchien – gab und diese keineswegs konstant waren. Schweden, zum Beispiel, war zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges und mehr als ein halbes Jahrhundert danach noch eine europäische Großmacht und Bestandteil der Pentarchie mit Frankreich, England, Russland und Österreich. Als seine Macht sank, rückte Preußen nach.

Falls also die Europäer durch Kämpfe untereinander ihren Status verspielen sollten, kann es dazu kommen, dass eine südamerikanische oder eine afrikanische Macht an ihre Stelle tritt. Letztlich stehen die Europäer vor der Frage, ob sie weiter ein Bestandteil der fünf ausschlaggebenden Akteure der Weltpolitik sein wollen – oder ob sie es vorziehen, sich zu provinzialisieren.

Sie beenden Ihr Buch mit dem Gedanken eines Scheiterns – allerdings nicht des Scheiterns der Europäer oder einer anderen Großmacht, sondern mit dem Gedanken, dass auch die Weltordnung der Fünf im Ganzen scheitern könnte.
In der Tat. Eine Alternative zu der von mir ins Spiel gebrachten Hierarchie der Staatenwelt könnte die Anarchie der Staatenwelt sein. In einer solchen Anarchie gäbe es gar keine Ordnung, Bündnisse würden je nach Opportunitätsgesichtspunkten permanent gewechselt, ständig bestünde die Gefahr von Konflikten, von Terroranschlägen und auch von Kriegen. Dass dies keine Verbesserung der Weltlage wäre, dürfte auf der Hand liegen.

Es hängt also viel davon ab, ob die genannten fünf Mächte bereit sind, die Führungsrolle zu übernehmen und auch die damit verbundenen Lasten und Kosten zu tragen. Das ist keineswegs selbstverständlich. Allerdings bekämen sie dafür auch einen größeren Einfluss als jene Mächte, die diese Lasten nicht zu tragen haben.

Wie die Sache ausgeht, weiß niemand. Mehr als „fifty-fifty“ kann ich dazu nicht sagen. Allerdings ist eine fünfzigprozentige Wahrscheinlichkeit, dass sich eine neue Weltordnung ausbildet und sich die Lage wieder stabilisiert, etwas, das man durchaus als Zuversicht bezeichnen kann.

Sind die jüngsten Ereignisse rund um die Arabische Halbinsel, wo Huthi-Verbände plötzlich Handelsschiffe von Großmächten angreifen, ein Vorgeschmack auf eine Anarchie der Staatenwelt?
Das ist ein gutes Beispiel, ja. Es zeigt nicht nur den Autoritätsverlust der Ordnungsmacht USA, sondern auch, dass dieser dadurch ausgeglichen werden könnte, dass Amerikaner und Europäer die Chinesen hinzubitten und diese dann über den Iran Druck auf die Huthi ausüben. Schließlich lebt auch China von einem ungestörten Welthandel.

Auch der Terror durch islamische Gruppen zeigt, und zwar nicht erst beim jüngsten Anschlag in Moskau, wie das Ausbleiben einer dominierenden einzelnen Macht oder einer kollektiven Führung mehrerer Mächte dazu führt, dass kleine lokale Konflikte immer weiter um sich greifen und irgendwann die Großmächte selbst bedrohen.

Beide Beispiele zeigen, wie stabilisierend eine funktionierende Pentarchie auf globale Konfliktherde wirken könnte. Sie zeigen aber auch, was uns droht, wenn die Pentarchie nicht funktionieren sollte – und selbst kleine regionale Akteure zur Gefahr für den weltweiten Frieden und Wohlstand werden.

Das Interview führte René Nehring.

Prof. Dr. Herfried Münkler war bis 2018 Inhaber des Lehrstuhls für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu seinen Büchern gehören „Die Deutschen und ihre Mythen“ (2008), „Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918“ (2013) und „Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma“ (2017, jeweils Rowohlt). www.rowohlt.de


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